Schwabenkinder

Im 19. Jh. herrschte im Westen Tirols große wirtschaftliche Not. In den Koalitionskriegen gegen Napoleon waren die alten Handelsbeziehungen zugrunde gegangen. Danach konnte das traditionelle Handwerk mit der einsetzenden Industrialisierung nicht mehr mithalten. Eisenbahnen übernahmen die Gütertransporte auf neuen Routen und die Realteilungen der Felder hatten die Besitzungen so stark schrumpfen lassen, dass kaum mehr ein Hof seine Besitzer ernähren konnte. Alle arbeitsfähigen Personen, die zu Hause entbehrlich waren, zogen daher in die Ferne um dort zu arbeiten. Viele der Oberländer verdingten sich als saisonale Wanderarbeiter oder Handwerker und jedes Frühjahr wanderten hunderte Kinder im Alter zwischen acht und fünfzehn Jahren zu den Großbauern des schwäbischen Alpenvorlandes, um sich für neue Kleider und mageren Lohn als Hirten, Knechte und Mägde zu verdingen. Erfahrene Begleitpersonen ("Schwabenväter" und "Schwabenmütter") gaben den Gruppen, die sich in Landeck und Reutte sammelten, Geleit und organisierten auf den Gesindemärkten in Kempten und Friedrichshafen die Übergabemodalitäten.

Im Großen und Ganzen waren die Arbeitsbedingungen erträglich, denn körperliche Arbeit waren die Kinder vom heimatlichen Hof gewöhnt; und wer seine Helfer zu sehr ausnützte, kam auf eine "schwarze Liste". Was den Kindern aber große Probleme bereitete, war die oft lieblose Behandlung in der Fremde, Einsamkeit, Heimweh und das aus einem Familienverband Gerissen-Sein, denn Familienanschluss gab es anscheinend nur selten. Oft wurden sie von den einheimischen Kindern, die sich als "Revierbesitzer" fühlten, gequält. Der Kontakt mit Bekannten auf anderen Höfen war verboten oder unmöglich. Zu Beginn des 20. Jhs. hörten die organisierten Schwabenzüge auf, Einzelfälle gab es aber noch bis in die 1930er Jahre.